Demente Politik
Zu einer Studie über Israels Reaktion nach den vier
Kriegen!
Von Rupert Neudeck 08.04.16
Es ist nichts in dem Buch wirklich neu, man hat das alles
gelesen, und dennoch ist man verblüfft und weiß nichts zu sagen: Man hat
mittlerweile drei Gaza Kriege geführt: Operation „Gegossenes Blei“ (2008/09),
2012 die Kriegsoperation „Säule der Verteidigung“ und 2014 die Operation „Fels
in der Brandung“. Dazu kommt noch das Aufbringen eines in internationalen
Gewässern auftauchenden Hilfsschiffes (Mavi Marmara) mit Hilfsgütern durch die
Israelische Luftwaffe, bei der 2010 neun ausländische Staatsbürger, darunter
acht Türken ermordet wurden.
Alle Kriterien, alles das, was die Menschheit seit den
Tagen des Römischen Reiches sich als Regelungsinstitute zuteilt und damit einen
Rahmen für das Zusammenleben bildet, hat für Israel, so Autor Finkelstein keine
Bedeutung. Und das geht in Höhen
und Tiefen. Es beginnt mit Verhältnissen des völkerrechtlichen Unrechts, nämlich
der Besatzung, die jetzt über 40 Jahre durchgesetzt werde, ohne Wenn und Aber.
Und manche Regierung und Staatslenker haben das völkerrechtsadäquate Wort längst
vergessen.
Es geht dann aber über in den Tatbestand von Kriegen, die
in Massaker ausarten, völlig unsymmetrische Kriege. Die auch nicht mehr nur nach
dem alten Fall der Koalitionskriege oder der Adelskriege geführt werden nach der
Methode: Ihr habt uns angegriffen, wir greifen Euch an.
Die Hamas war nachweislich dabei, den
Waffenstillstand zu halten, den sie mit Israel eingegangen war. Israel hat die
Waffenruhe in Gaza gebrochen. Aber die Staatsraison hat sich darauf
eingeschossen. Nicht das Recht, sondern die Kraft und die UNO Charta, sondern
die Abschreckungsfähigkeit von Israels Armee ist entscheidend.
Nach dem Gaza Krieg Nr. eins passiert etwas noch
Kurioseres: Es gab nach diesem Krieg eine Untersuchungskommission der UNO unter
dem Leiter des Ruanda Tribunals in Arusha, Richard Goldstone. Der Goldstone
Bericht gelangt zu dem Schluß, dass Israel vorsätzlich in Gaza Zivilisten tötete
und verheerende Schäden an der Infrastruktur anrichtete. Der Bericht ist
aufgebaut wie alle juristischen Untersuchungsberichte der UNO. „Sed et altera
pars…“ Trotz unserer Gewohnheit, verquere und krause Reaktionen von Israel zu
kennen, war diese geballte Reaktion von Staatspräsident Shimon Peres bis zur
Amerikanischen mächtigen Think Tank Organisation „American Israel Public Affairs
Committee“ (AIPAC) war das ein Furioso der Beleidigung des Berichts, all seiner
Mitglieder, eine Schande für die Menschheit. Andere entblödeten sich nicht wie
z.B. Elie Wiesel, den Bericht als „ein Verbrechen gegen das jüdische Volk“ zu
bezeichnen. Zu diesem Bericht habe es keine Veranlassung gegeben, weil er – Elie
Wiesel – persönlich nicht glauben könne, “dass israelische Soldaten Leute
ermordet oder Kinder erschossen haben. Das kann einfach nicht sein“.
„Das kann einfach nicht sein!“, das ist der Fingerzeig,
weshalb man Israels Politik immer auch sozialpsychologisch beurteilen muss, nach
den Zwangsvorstellungen, die in dieser Politik stecken.
Auch die üblichen Reaktionen auf diese Kritik waren nun
wieder zersetzt, weil man in Europa Kritik an Israels Verlautbarungen noch nicht
macht.
Was die Mehrzahl der Zeitgenossen damals nicht wußte,
dass da natürlich ein automatischer Vorwurf war, dass der Richard Goldstone ein
Antisemit und Judenhasser sei. Das Kuriose war nun, dass der in der NS-Zeit nach
Südafrika gekommene Richard Goldstone ein – Jude ist, und zwar ein knallharter
Zionist. Dieser Goldstone hat offenbar unter dem Dauerbeschuss der jüdischen
Weltgemeinschaft so gelitten, dass er zur Enttäuschung aller Menschenrechtler in
Israel und außerhalb Israels einen Widerruf äußerte. Am 1. April 2011 erklärte
Richard Goldstone in der überragend wichtigsten Zeitung der Washington Post den
nach ihm benannten UN-Bericht für zurückgenommen.
Mit diesem Widerruf habe Goldstone der „Sache der
Wahrheit, der Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit“ einen schweren Schaden
zugefügt. Bis heute weiß man nicht, ob er in Südafrika erpreßt wurde, aber
auszuschließen ist das wahrlich nicht. Oder bedeutete ihm die ethnische
Zugehörigkeit mehr als die Wahrheit? Auch in der Ausführung seines Widerrufes
sagt Goldstone Mißverständliches. Er verdächtige nicht mehr Israel, in „Gaza die
systematische Ermordung der Zivilbevölkerung betrieben zu haben. Wenn er damit
sagen will, dass er von dieser Behauptung Abstand nimmt, dann ist das komisch,
weil es in dem Bericht den Vorwurf nicht gibt. Es ist unglaublich merkwürdig,
dass ein weltbekannter renommierter Völkerrechtler, mehrfach in Diensten der UNO
unterwegs, sich zu einer Aktion entschließt, die weder seine Redaktionskollegen
in dem UN-Bericht verstehen noch irgendwer sonst. Alles ist Spekulation: Ob es
Druck auf ihn und seine Familie von jüdischer Seite gegeben hat? Oder von
anderer Seite? Ob es Goldstone auch um seine Karriere zu tun war, denn er war
gerade in die hohe Spitzengruppe der UNO Juristen gelangt. Niemand kann es bis
heute sagen. Das Desaster in dem winzig-kleinen Gazastrip, den man zu Fuß oder
laufend umqueren kann und in dem es der israelischen Armee wirklich gelang 1400
Menschen zu töten, 1500 Fabrikgebäude zu bombardieren wie auch 280 Schulen und
Kindergärten, 190 Gewächshausanlagen, 45 Moscheen und 122
Gesundheitseinrichtungen. Man weiß als Beobachter, der den Gaza auch mal besucht
hat, nicht, wie das möglich sein kann, ohne den Effekt zu erreichen, den der
Autor mehrmals zitiert aus dem Munde der damaligen UN-Hochkommissarin für
Menschenrechte, Mary Robinson. Sie hat erklärt, Gazas „ganze Zivilisation wurde
vernichtet“, das könne man ohne Übertreibung sagen. Man kann sich nicht
vorstellen, unter solchen Bedingungen im Gaza Streifen noch weiterzuleben.
Um eine Vorstellung von der Winzigkeit des geographischen
Raumes zu haben: Es gibt unter Menschenrechtlern immer wieder den bisher
illusionären Plan, den Marathon Lauf an der Küste Gazas zu veranstalten. Die
Küstenlänge Gazas ist nicht länger als die Länge des Marathonlaufes – 42 km! Der
Autor Finkelstein betont –, Israel habe eine
Sicherheitsoperation nach der anderen vermasselt. 2006 musste es im
Libanon einen heftigen Rückschlag auffangen und war über das ausgespannte
Rettungstuch der UNO ganz glücklich. Dann sollte die Gaza Operation „Gegossenes
Blei“ Israels Abschreckungsfähigkeit wiederhergestellt haben. „Aber so feige wie
Israel dabei vorging, erntete es bloß Abscheu. Auch das Schiff Mavi Marmara war
durch ein Knäuel von Propaganda Einwürfen von israelischer Seite markiert. Es
sollte eine antisemitische Organisation das Schiff organisiert und gemietet
haben. Dann wurde Druck aufgebaut, um die Stimme der Türkei nicht zu stark
werden zu lassen.
Der Autor erwähnt die beiden Märtyrer der
Versöhnungssache, die bis heute nicht vergessen sind: Rachel Corrie, die sich
einem Bulldozer mit stolzer Geste entgegenstellt und plattgefahren wurde. Tom
Hurndall wird die gleiche Wirkung für die Britische Öffentlichkeit gehabt haben.
So kann Israel in die nächsten Kriege gehen: den zweiten
und Dritten (und vierten?) Gaza Krieg wie den Libanon Krieg. Es ging immer
wieder um die israelische Abschreckungsfähigkeit, wie die Außenministerin in
ihrer hardcore Sprache erklärte. „Die Hamas hat jetzt begriffen, dass Israel
ausrastet, wenn seine Bürger beschossen werden, und das ist auch gut so.“ Der
Autor ist nicht nur verzweifelt. Er betont, dass die Palästinenser weiter das
Recht haben, zu den Waffen zu greifen um Widerstand auszuüben. Aber das hat sich
bisher als aussichtslos herausgestellt. Was, fragt Finkelstein, „wenn die Zeit,
Energie, Kreativität und Genialität, die sonst
in den Tunnelbau fließen würden, stattdessen in Gazas wertvollste
Ressource - seine Bevölkerung
verwandt würde?“ Und noch dramatischer und aussichtsreicher, wenn die 1, 8
Millionen Bewohner Gazas auf die israelischen Grenzübergänge zumarschierten und
dabei Spruchbänder hochhielten mit der Aufschrift „Hört auf , uns die Luft
abzuschneiden“ „Schluß mit der illegalen Gaza Blockade“. Was, fragt der Autor,
wen die eine Million Kinder in Gaza den Demonstrationszug anführten, ja die
KINDER!! Und er erinnert an das „Wunderwerk der Kinder“ in Selma /Alabama in den
Tagen von Martin Luther King, eine Demonstration, die der Rassentrennung den
entscheidenden Schlag versetzen würde. Sind die Zeiten gut dafür? Gibt es noch
die Bereitschaft der Jugend Europas nach Spanien zu gehen und gegen den
Faschismus zu kämpfen? Es müßte eine große Operation aufgebaut werden, die den
1,8 Mio Gazaern hilft. Von Europa kommen immer wieder für 1-3 Monate Freiwillige
nach Gaza, um den Marsch mitzumachen.
Das zweite, was diese Bewegung braucht, ist eine
charismatische Persönlichkeit, ein Martin Buber oder ein Ury Avnery. Aber ich
halte es zum Schluß mit der
Folgerung des Autors: Gegen den
bewaffneten Widerstand spricht, dass er bei dem Versuch der Gaza Blockade ein
Ende zu bereiten, schon mehrfach versucht wurde: ohne Erfolg. Gegen den breit
angelegten gewaltfreien Widerstand spricht höchstens, „dass man es mit ihm noch
nicht versucht hat. Hat er nicht wenigstens eine Chance verdient?“
Norman G. Finkelstein: Methode und Wahnsinn. Die
Hintergründe der Israelischen Angriffe auf Gaza. Laika Verlag Hamburg 2016
149 Seiten